Forschungspolitik und akademische Privatinitiative

Erwin Engeler, ETH Zürich

für Prof. Dr. Urs Hochstrasser zum 70. Geburtstag

 

Vor wenigen Tagen habe ich die beiden wahrscheinlich letzten Forschungsgesuche meiner akademischen Karriere eingereicht. Das eine bezweckt die Unterstützung eines Doktoranden in Mathematik (für ein Thema an der gemeinsamen Grenze zwischen Grundlagen der Mathematik, Algebra und Algorithmik); das andere die Finanzierung der Weiterführung eines Vertrages für internationale Forschungszusammenarbeit mit europäischen und amerikanischen Partnern (auf dem Gebiet der Informatik). Ich nehme dies zum Anlass, für einen Rückblick auf die Interaktion die ich selbst mit den Mechanismen der Forschungsförderung erfahren habe, und über den offensichtlichen Wandel, der darin in den vierzig Jahren meiner eigenen Forschungstätigkeit eingetreten ist. Dabei wird sich wiederholt Gelegenheit bieten, die Rolle von Urs Hochstrasser herauszuheben.

 

1. Vom Wachstum zum "steady state": der Zerfall einer Utopie

Die zweite Hälfte der Fünfzigerjahre sah den Beginn des sogenannten "brain drain", eine Phase in welcher die amerikanische Technologie und die amerikanische akademische Welt eine unerhörte Sogwirkung auf die europäische akademische Jugend ausübte. Es muss zu jener Zeit gewesen sein, als Urs Hochstrasser wissenschaftlicher Attaché an unserer Botschaft in Washington war; jedenfalls erinnere ich mich an einem Empfang, den er dort anlässlich der Jahrestagung der American Mathematical Society für die vielen jungen schweizer Mathematiker gab, die damals in den USA wirkten. Wir alle waren damals eingebunden in einen Aufschwung des wissenschaftlichen Establishments der USA, der geprägt war vom Sputnik-Schock einerseits und dem vom unerhörten Erfolg des Manhatten Projekts genährten Glauben an die Lösbarkeit grosser technisch-wissenschaftlicher Probleme durch entsprechenden Grosseinsatz von Mitteln. Auf meinem sehr "junior level" als Assistant Professor wirkte sich das so aus, dass mir Forschungsgelder relativ mühlos zugesprochen wurden und ich fast sofort Doktoranden anstellen und betreuen konnte.

In unserer Generation unterstützte diese Erfahrung eine Perzeption der akademischen Welt, welche ich die Utopie des autonomen akademischen Forschers nennen will: er ist frei in der Wahl seines Forschungsbereiches und in der Auswahl der Probleme die er bearbeiten und der Methoden und Hilfsmittel, inklusive Personal, deren er sich bedienen will. Die Grenzen seiner Tätigkeit sind ausschliesslich gesetzt durch deren Einschätzung in "peer reviews", in welcher Originalität der Forschungsvorhaben und publizierte bisherige Leistungen den Ausschlag geben.

Die Rolle dieser Utopie ist nicht, dass ihr Ideal in allen Teilen verwirklicht werde, sondern dass sie den psychologischen Hintergrund bildet für das Selbstverständnis des akademischen Forschers: je mehr sich seine persönliche Befindlichkeit der Utopie annähert, umso mehr findet er sich erfolgreich. Sie ist auch eine Notwendigkeit für die innere Verarbeitung der unausweichlichen Rückschläge, Frustrationen und auch der Erfolge der persönlichen Tätigkeit. Sie ist es, welche junge Leute bei den unerlässlichen Opfern an persönlicher Freiheit und Lebensqualität leitet, welche im "Dienste der Wissenschaft" geleistet werden müssen.

Aber es war abzusehen, dass die Wachstumsphase des US Wissenschafts-Establishments - und später auch des europäischen - ein Ende nehmen würde; die Begabtenreserve ist einmal ausgeschöpft; der Prozentsatz des GDP, der in die Wissenschaft geht, kann nicht unbegrenzt wachsen; die Gesellschaft beginnt, andere Prioritäten zu setzen, etc. Es gibt aber auch inner-wissenschaftliche Entwicklungen, welche an der Utopie des autonomen Forschers korrigierend eingreifen. So etwa die Notwendigkeit grösster und teuerster Einrichtungen für Experimente (von der Hochenergie-Physik bis zum Supercomputer), die Internationalisierung der Forschungsförderung und der damit verbundene Druck zu Zusammenarbeit an international vorgeplanten Projekten. Unter diesen äusseren Bedingungen lässt sich die Illusion der Autonomie nur von einem kleinen Kreis Auserwählter aufrecht erhalten, und auch bei diesen oft zu einem akademisch gesehen harten Preis: die reine Forschung zugunsten der "grantman-ship" zurückzustellen. Die in die Wissenschaft Einsteigenden, hingegen, sind heute mit Karriereaussichten konfrontiert, welche für viele bedrückend ist: im "steady state" sind weniger von ihnen gefragt, der Aufstieg ist langsamer und das Alters-Fenster für akademische Beförderungen schliesst sich unvermerkt.

 

2. "Policy" oder "Politics": ein Wunschprofil

Mathematiker sind vielleicht von allen Wissenschaftern diejenigen, welche am wenigsten vom oben beschriebenen Phänomenen betroffen sind; die Begabung für Mathematik ist, wie die für Musik, nur einem kleinen Prozentsatz gegeben, und ihre Anforderungen an Forschungs Infrastruktur ist traditionell äusserst bescheiden. So habe ich persönlich von den Grenzen des Wachstums lange nichts gespürt, insbesondere nicht, weil mein Arbeitsgebiet an der Grenze zwischen reiner Mathematik und Informatik erst gerade seinen initialen Aufschwung nahm.

Mein erstes kostspieliges Projekt betraf das interaktive Rechnen: In den Siebzigerjahren war das ETH Rechenzentrum mit seinem grossen Batch-Computer massgebend - und genügte mir nicht für meine Absichten, nämlich die Struktur von mathematischen Problem anhand der Struktur einer ihrer zugeordeneten Gruppe zu untersuchen. Derartige Fragestellungen erforderten nämlich einen Dialog zwischen dem Programm, das am Problem arbeitet, und dem Mathematiker, der anhand von Teilergebnissen das Weitergehen in der Hand behalten will. Es genügte ein kleiner Aufwand an "Politics" um einen innovativ gesinnten Kreis von Forschern aus Physik, Chemie, und den Ingenieurwissenschaften an der ETH zu mobilisieren, und um 1978 hatte ich "mein" ZIR. Die "Policy" der Schulleitung der ETH war klar: ist etwas gut und gut begründet, so findet man schon eine Geldquelle um es zu finanzieren. Letzteres ist allerdings seither härter geworden, ändert aber nichts an meinem Wunschprofil des Forschungspatrons.

Meine erste ernsthafte Gemeinsamkeit mit Urs Hochstrasser entwickelte sich aus dem Projekt für einen schweizerischen Hochleistungsrechner. Mein persönliches Interesse an Supercomputern basierte auf einem Projekt, neben dem numerischen auch das bisher weitgehend vernachlässigten symbolischen Computing auf die nächsten Grössenordnung von Problemgrössen und Effizienz hochzuheben. Dazu sammelte ich Erfahrungen am damals führenden Supercomputer Center der University of Minnesota und basierte darauf eine Initiative interessierter Forscher an der ETH Zürich für ein nationales Zentrum. Ich erinnere mich an einen Spaziergang in Luzern mitte der Achtzigerjahre bei dem ich Urs Hochstrasser von solchen Erfahrungen und Absichten berichtete. Ich fand ein offenes Ohr. Er verband Sachkenntnis (als ehemaliger Leiter eines Computerzentrums) und politisches Know-how. Beides sind unerlässliche Voraussetzungen um ein solches Projekt nicht nur "gut und gut begründet" zu finden, sondern auch den Rahmen zu finden und den Weg zu bahnen, um es zu ermöglichen; Hochstrasser war dafür der ideale Forschungspatron.

 

3. Ermöglichung der Internationalität

Lange nach der Hochenergie, ja selbst der Astronomie, kam die Mathematik und Informatik in der Schweiz zu Strukturen der internationalen Zusammenarbeit, die über den traditionellen akademischen Austausch von Resultaten durch Publikationen, Besuche und Kongresse hinausgingen. Die schweizerische Situation ist, wie bekannt, dadurch erschwert, dass wir nicht einfach auf Grund von abgeschlossenen Verträgen selbstverständlichen Zugang zu europäischen Forschungs-Rahmenprogrammen haben, sondern dass wir uns den Zugang - wenigsten vorläufig - einzeln erkämpfen müssen. Der Ruf der Qualität unserer Forschung hilft dabei solange es um das Verhältnis zu den andern Forschern geht, aber deutlich weniger, wenn die Forschungsbürokratie einhakt. Äusseren organisationellen Strukturen kann man nur mit eigenen effektiv begegnen; solche zu schaffen ist mittelfristig eine unausweichliche Herausforderung an die schweizerische Wissenschaft.

Für das Gebiet der Informatik und Mathematik durfte ich auf die kreative Mitarbeit von Urs Hochstrasser zählen: Das Problem war, die schweizerische Informatik in zwei wesentliche Organisationen einzubinden. Die erste Initiative stammte vorallem aus der deutschen Grossindustrie und bezweckte, in den USA ein Forschungszentrum für Informatik zu gründen und zu finanzieren. Das Ziel dieser Institution war, und ist, den Austausch von Ideen und Forschern zwischen USA und Europe auf einem hohen Niveau zu fördern und so ein Fenster in die USA Forschungsszene zu öffnen. Ich wusste von meinen Freunden in Berkeley, dass sie sich bemühten, das Zentrum dorthin zu plazieren (was 1986 dann auch gelang). Wir kamen überein, zu versuchen, auch die Schweiz an der Aktion zu beteiligen, von der wir uns sehr viel wissenschaftlichen Gewinn versprachen. Darauf angesprochen, hat Urs Hochstrasser sowohl die Form der schweizerischen Organisation (die Schweizerische Gesellschaft zur Förderung der Informatik und ihre Anwendungen) wie auch ein Finanzierungsmodell erarbeitet. Seit 1989 ist die SGFI eine wesentliche Komponente dieser transatlantischen Zusammenarbeit und hat schon viele - und schliesslich sehr erfolgreiche - junge Forscher in diesen Austausch eingebracht.

Schon bei der Gründung der SGFI hat Hochstrasser darauf geachtet, dass deren Statuten auch andere, insbesondere europäische, Zusammenarbeiten mit Forschungsorganisationen vorhersahen. Ebenfalls auf Grund persönlicher Kontakte sind wir seit 1994 Mitglied von ERCIM (European Research Consortium for Informatics and Mathematics) ein sehr aktiver Rahmen bestehend aus den hauptsächlich nationalen Forschungslaboratorien auf diesem Gebiet. Die wesentliche Aufgabe dieses Konsortiums ist die Initiierung von konzertierter europäischer Aktionen auf dem Gebiet der Informatik.

 

4. Schlussbemerkung: Utopie und Bürokratie

Ich möchte hoffen, dass die schweizerische Wissenschaft immer wieder Persönlichkeiten hervorbringt, welche das leisten was ich an Urs Hochstrasse als besonders positiv erfahren habe: Die Privatinitiative des akademischen Forschers zu fördern, in die richtige Bahn zu bringen, und ihre Durchführung zu ermöglichen. Dies unter sich ändernden ( und ich meine: verschlechternden) Rahmenbedingungen und soziologischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, erfordert grosses Geschick nicht nur im politischen, auch im personellen Bereich: Die Kreativität der Forschung ist ganz wesentlich abhängig vom Selbstverständnis des Forschers als Selbststarter, Selbstverantwortlicher in einem verständnisvoll unterstützenden aber auch sachlich kritisch wägenden Rahmen.



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