Vorwort

 

Nachdem mir die Familie Andreae die umfangreiche Briefsammlung von Volkmar Andreae zur wissenschaftlichen Erschliessung übergeben hatte, erwies sich sehr bald, dass es sich dabei um einen ganz besonders wertvollen Schatz zeit- und musikgeschichtlicher Dokumente handelt. In diesen Briefen wird das Zürcher Musikleben eines halben Jahrhunderts in seiner Vielfalt und in seiner Einmaligkeit besonders auch in schwierigen Zeiten deutlich. Es widerspiegeln sich in Hunderten von Briefen und Karten fast alle grossen Persönlichkeiten, die das Musikleben in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts mitgeprägt haben.

Ich durfte mich glücklich schätzen, dass eine Reihe bedeutender Musiker und Musikwissenschaftler sich an diesem Material begeisterten. Ihre Arbeit ermöglichte es, dass mit dem vorliegenden Band vom Reichtum der Briefsammlung einiges erschlossen werden konnte. Allen voran zu nennen ist Prof. Dr. Ernst Lichtenhahn vom musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, der mir bei diesem Projekt mit Rat und Tat hilfreich zur Seite stand.

Unser Ziel war, dem Musikfreund ein paar wichtige musik- und geistesgeschichtliche Höhepunkte aus dieser Korrespondenz zu vermitteln, sie kritisch zu beleuchten und in den Zusammenhang des Zürcher Musik- und Kulturlebens zu stellen.

Mit seinem einleitenden Kapitel über das Musikleben Zürichs macht Gerold Fierz anhand von Originaldokumenten aus dem Archiv der Tonhallegesellschaft den kulturellen Rahmen deutlich, in dessen Bezugsfeld die Korrespondenz der einzelnen Briefsteller steht. Von diesen Briefstellern haben wir die in ihrem Einfluss wichtigsten Autoren herausgegriffen. Sie werden in einzelnen Beiträgen von führenden Experten behandelt. Dabei zeigten sich für jeden Briefsteller Perioden intensiverer Korrespondenz. Die einzelnen Korrespondenzen erscheinen in diesem Buch solchen Häufungen entsprechend in einer ungefähren chronologischen Ordnung. So ergibt sich ein Bild von Andreaes Beziehungen über die Jahrzehnte, vom Vorganger und väterlichen Ratgeber Friedrich Hegar bis zur freundschaftlichen Anteilnahme Andreaes am Leben und Werk von Willy Burkhard.

In den Fachbeiträgen werden je nach der Beschaffenheit der Korrespondenz verschiedene Darstellungsmethoden verwendet; die Briefgegenstände sind wie die persönlichen Beziehungen zu den Briefstellern sehr vielfältig. Bei Hindemith ist z.B. eine geschlossene und zusammenhängende Darstellung der Beziehung möglich, während etwa bei den Schönberg-Briefen wegen des wichtigen musikalischen Inhaltes ein vollständiger Abdruck und ihre Bearbeitung vornehmlich in den Anmerkungen angemessen ist. Die Titel der Beitrage deuten demgemäss auf das Hauptthema des Briefwechsels bzw. auf dic Natur des Verhältnisses zwischen dem Briefsteller und Volkmar Andreae hin.

Natürlich ist in diesen Beiträgen nur ein Teil des vielfältigen musikalischen, zeitgeschichtlichen und persönlichen Materials verarbeitet. Der Zweck der von uns bearbeiteten Regesten, in denen die Hauptinhalte der Briefe in kurzen Worten charakterisiert werden, und des zugehörigen Werk- und Personenregisters, ist deshalb, das Gros des Nachlasses der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich zu machen. Insgesamt ergibt sich ein lebendiges Bild von politischer Kontroverse bis zu Querelen über Aufführungsdetails, von Dank für die Förderung junger und lokaler Talente bis zu Zumutungen betreffend Ehrenpromotionen und schweizerischcm Bügerrecht. Als Streiflichter möchten wir an dieser Stelle nur auf ein paar wenige Beispiele verweisen.

Wie sich Wilhelm Furtwängler 1936 (Nr. 571) ausdrückt, wird die Musik durch die Politik "beansprucht" und so werden es auch die Musiker, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus. Adolf Busch bricht I933 eine Konzertreihe in Deutschland wegen Rassenverfolgung ab (Nr. 289). Hermann Abendroth (Nr. 26) und Siegmund von Hausegger (Nr. 710) suchen Stellen in der Schweiz für ihre verfemten jüdischen Freunde, Andreae zieht 1936 cines seiner Werke aus einem deutschen Konzertprogramm zuruck (Nr. 716). Casals (Nr. 449) schreibt über seinen politisch motivierten Entschluss, in Spanien nicht mehr zu spielen, solange sich die Verhältnisse nicht grundlegend geändert haben. Die Schweiz erscheint vielen Briefstellern in dieser Zeit, wie schon wihrend des Ersten Weltkrieges, als Insel politischer Freiheit und wirtschaftlicher Stabilität, doch will es nur wenigen gelingen, sich in der Schweiz niederzulassen: Adolf Busch geht schliesslich in die USA, und Furtwängler muss sich 1945 einer Pressekampagne und einer Rechtfertigung seines Verbleibens in Deutschland stellen (Nr. 572 - 579). Selbst Andreae werden seine fortgeführten Beziehungen zum Vorsitzendcn des Allgemeinen Deutschen Musikvereins Max von Schillings (Nr. 1303 - 1330) und zu Siegmund von Hausegger (Nr. 614 - 721) vermerkt, und von schweizerischer Seite wird eine Vernachlässigung "jüdischer" Musik vermutet (Nr. 29).

Neben politischen schlagen sich auch wirtschaftliche Schwierigkeiten in den Briefen nieder. Hermann Abendroth beklagt sich I931 über eine Verringerung des Kölner Orchesters (Nr. 17), Adolf Buschs Frau verwendet sich 1919 für eine Vorauszahlung (Nr. 273) 1926 wegen des Kaufs einer neuen Geige (Nr. 274). In verschiedenen Briefen setzen sich überhaupt Frauen für Männer ein, so etwa bedankt sich Helene Braunfels dafür, dass ihr Sohn "in seiner Laufbahn merklich gefördert" werde (Nr. 90). Selbstverständlich stehen vielfach Fragen der Instrumentation und der Aufführungspraxis im Vordergrund. Dies kann bis in die Details der Plazierung der Aufführenden (Schönberg, Gurrelieder (Nr. 1347), der Wahl des Flügels (Max von Schillings, Nr. 1324) oder der Verwendung von "Tubular Bells" (Röhrenglocken) für die Aufführung von "Brigg Fair" von Frederick Delius (Nr. 465) und die Anzahl Holzbläser (Braunfels, Nr. 97) gehen. In diesen Dokumenten ist ein Reichtum von originalen aufführungstechnischen Hinweisen enthalten, welche möglicherweise bei zukünftigen Interpretationen relevant sein können. Musikgeschichtlich interessant sind ausserdem die oft recht freimütigen Äusserungen über Werke und Personen und die Schwierigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen Vorstellungen der Dirigenten und Interpreten ergeben (z.B. bei Ysaye, Nr. 1588 - 1592). Aus dem ganzen Briefwechsel geht aber deutlich hervor, mit welch musikalischer Wärme und künstlerischem Feinsinn Volkmar Andreae seine Zeitgenossen behandelte, aufnahm und förderte. Sprechende Dokumente dafür sind die Briefe von Carl Flesch (Nr. 528): "Zählen doch die Züricher Concerte unter Ihrer Leitung zu dcn schönsten Erinnerungen meiner Laufbahn." Wladimir Vogel (Nr. 1471) dankt für "die 1932 erfolgte Erstauführung meiner 2 Etüden für Orchester, mit der Sie mich zu eincr Zeit legitimiertcn, als man meine Musik und mich in Zürich kaum kannte"; Erich Schmid ist Andreae dankbar für die Unterstützung zur Wahl als Nachfolger und Dirigent des Tonhalle-Orchesters (Nr. 1331) Armin Schibler gratuliert Volkmar Andreae anlässlich des 80. Geburtstages und dankt ihm für Ihr "Wirken und Schaffen im Allgemeinen, für Ihr Eintreten für mich in meinen ersten Schaffensjahren im Besonderen" (Nr. 1302). Die Briefsteller, die im Album des Tonkünstlervereins Volkmar Andreae zum 80. Geburtstag gratuliert haben, sind alphabetisch in die Regesten eingeordnet. Dem Titelblatt "Der Schweizerische Tonkünstlerverein zum 80. Geburtstag von Volkmar Andreae" folgt ein handschriftliches Blatt mit den Worten "avec les messages reconnaissants des membres du comite de l'A.M.S. a leur cher President d'honneur: Samuel Baud-Bovy, Paul Müller, Conrad Beck, A. F. Marescotti, Adolf Streuli, Constantin Regamey, Richard Sturzenegger, Paul Baumgartner, Jean Henneberger".

Ich möchte den Mitarbeitern, welche mit ihren Beiträgen dieses Buch ermöglicht haben, ganz herzlich für ihre Arbeit danken. Der Tonhalle-Gesellschaft sowie dem Stadtarchiv Zürich verdanken wir ihre bereitwillige Mithilfe. Danken darf ich auch unserem Patronatskomitee, durch dessen Mithilfe wir die Unterstützung einer Reihe von grosszügigen Gönnern erhielten, die unser Buchprojekt finanziell auf eine sichere Basis stellten.

 

Margaret Engeler



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